20. Jahrhundert: 1930 - 1939
| 1930 |
Januar: Bau 29 des Zeiss-Hauptwerke, der den südöstlichen Abschluss zur Altstadt bildet, ist im Rohbau fertiggestellt (Architekt: Emil Fahrenkamp; Entwicklung der Rahmendecken, die die Überspannung großer Räume bei Aufnahme enormer Lasten ohne Unterzüge ermöglichen: Georg Rüth). 31. Juli: Das Abbeanum als Lehr- und Forschungsgebäude der Universität für das Optische Institut und das Institut für Angewandte Mathematik wird – ausgeführt durch die Staatliche Hochschule für Handwerk und Baukunst in Weimar unter den Architekten Ernst Neufert und Otto Bartning – der Universität übergeben. 15. November: Der gegen den Willen der Universitätsleitung durch den thüringischen Innenminister Frick (NSDAP) auf einen neugeschaffenen Lehrstuhl für Sozialanthropologie berufene Hans F. K. Günther, einer der Hauptvertreter der nationalsozialistischen Rasseideologie, hält seine Antrittsvorlesung in Anwesenheit Hitlers, Görings und andere Nazi-Größen. 13. Dezember: Das Studentenhaus am Philosophenweg – vom Verein Jenaer Studentenhilfe in Auftrag gegeben (Architekt: Ernst Neufert, Staatliche Bauhochschule Weimar) – wird eingeweiht. Neben einer Großküche beherbergt es unter anderem ein Café, Vortrags- und Veranstaltungsräume, Aufenthaltsräume für Studierende und die Büros der Studentenhilfe. |
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| 1931 |
Der Bauhauskünstler Wilhelm Wagenfeld übernimmt als freier Mitarbeiter die Formgestaltung des im Schottwerk seit 1918 produzierten hitzebeständigen Haushaltsglases („Jenaer Glas“). Bis 1937 entwirft er ein umfangreiches Sortiment für hitzebeständiges Hauswirtschafts- und Beleuchtungsglas, wobei die für Schott entworfene Teekanne in die Geschichte des Industriedesigns eingeht. Der Bienenkundler und Pfarrer August Ludwig richtet am Steiger den Universitätslehrbienenstand ein („Bienenhaus“). |
| 1932 |
7. Februar: Im „Berliner Tageblatt“ schildert der amerikanische Journalist Knickerbocker die wirtschaftlichen und sozialen Verhältnisse in Jena in der Weltwirtschaftskrise als erstaunlich stabil („Oase Jena“). 18. November: Für ihr soziales Engagement, den Einsatz für Mädchenbildung und die Schaffung eines Kinderkrankenhauses wird Grete Unrein, der Tochter Ernst Abbes, als erster Frau in Jena das Ehrenbürgerrecht verliehen. 4. Dezember: Bei den letzten freien Gemeinderatswahlen vor der Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur wird die SPD in Jena trotz Verlusten mit rund 25% (= 9 Mandate) wählerstärkste Partei. NSDAP und KPD erreichen jeweils rund 22% (je 8) und die bürgerlichen Parteien zusammen rund 30% Stimmenanteil (zusammen 10). |
| 1933 |
25./26. Februar: Der jüdische Professor Felix Auerbach und seine Gattin Anna, die beide über lange Zeit das gesellschaftliche und geistig-kulturelle Leben der Stadt mitgeprägt hatten, scheiden durch Suizid aus dem Leben. 31. März: Die Montessori-Schule in Jena muss geschlossen werden, nachdem Land und Stadt die Finanzierung einstellen. 5. März: Bei den bereits unter Ausnahmebedingungen durchgeführten Reichswahlen wird die NSDAP in Jena mit rund 33% stärkste Partei (gegenüber 47% in Thüringen). Die SPD kommt auf 26%, die weitgehend in der Illegalität befindliche KPD auf rund 18% (in Thüringen 20 bzw. 15%), die rechtskonservativen bürgerlichen bzw. liberalen Kräfte erreichen jeweils rund 10%. Im nach dem Ersten Gleichschaltungsgesetz (31. März) entsprechend des Reichstagswahlergebnis umgebildeten Jenaer Gemeinderat erhalten die NSDAP 13, die SPD 8, der rechtskonservative Kampfbund Schwarz-Weiß-Rot 3 und die Deutsche Staatspartei ein Mandat (die KPD-Mandate werden annulliert). 21. März: Mehrere Straßen werden nach NSDAP-Größen benannt bzw. umbenannt. Im Mai folgen weitere Umbenennungen von Straßen sowie der meisten Schulen. 1. April: Dem ersten reichsweiten Boykott gegen jüdische Geschäfte, Arztpraxen und Rechtsanwaltskanzleien wird in Jena weitgehend Folge geleistet. 7. April: Auf der Grundlage des „Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums“ werden die jüdischen Universitäts-Professoren Brauner, Josephy, Klein, Meyer-Steineg, Peters und Simmel sowie weitere Mitarbeiter aus "rassischen Gründen" beurlaubt bzw. entlassen. Weitere Entlassungen, Beurlaubungen und vorzeitige Versetzungen in den Ruhestand erfolgen aus politischen Gründen. 2. Mai: Das Gewerkschaftshaus in der Bachstraße wird durch Trupps der Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation des Zeiss-Werkes besetzt und der Deutschen Arbeitsfront zur Nutzung übergeben. 9. Juni: Nach Verbot und Auflösung der meisten Arbeitersportvereine schließt sich der Turnverein Glashütte mit dem Werksorchester zum “Turn-, Sport- und Musikverein Glaswerk Jena” zum „TSM Glaswerk“ zusammen und nimmt Sportler aus aufgelösten Vereinen auf. 25. Juli: Im Lobedaer Schloss wird die „Landesführerschule II“ der NSDAP eröffnet („Schulungsburg“ der NSDAP und der Deutschen Arbeitsfront), nachdem der Anlagenkomplex in den Besitz der DAF übergegangen war. 28. Juli: Der NSDAP-Kreisleiter und bisherige ehrenamtliche Beigeordnete Armin Schmidt wird vom NSDAP-beherrschte Stadtrat per Akklamation zum Oberbürgermeister erhoben. Nach einem mit fadenscheiniger Begründung gegen den amtierenden Oberbürgermeister Alexander Elsner eingeleiteten Dienststrafverfahren war Schmidt durch das Thüringer Innenministerium mit der kommissarischen Führung der Geschäfte beauftragt gewesen. 26. August: Zum ersten Jahrestag der nationalsozialistischen Machtübernahme in Thüringen führen die Nationalsozialistische Betriebszellenorganisation des Zeiss-Werkes und die Hitlerjugend auf dem Markt eine Bücherverbrennung durch. Verbrannt werden wahrscheinlich die kurz zuvor beschlagnahmten Bücherbestände der SPD-Geschäftsstelle und des Gewerkschaftshauses. 6. November: Die Landesregierung verfügt eine Revision der Hauptsatzung der Universität, die die akademische Selbstverwaltung durch das „Führerprinzip“ ersetzt (Rektor als „Führer der Universität“). Als Zwangsorganisation des Lehrkörpers wird die „Dozentenschaft“ etabliert. |
| 1934 |
1. Januar: Das Erbgesundheitsobergericht Jena nimmt seine Tätigkeit auf. Es verhandelt Berufungen gegen die von den Erbgesundheitsgerichten verhängten Sterilisierungsanordnungen. Mehrere prominente Jenaer Mediziner, darunter Prof. Hans Berger, beteiligen sich als Gutachter an der Tätigkeit des Gerichts und verleihen damit den von den Nationalsozialisten verübten Medizinverbrechen einen rechtlichen Anstrich. Mai: Der Physiker Abraham Esau, Rektor der Universität, wird zum Stiftungskommissar der Carl-Zeiss-Stiftung berufen. Er löst Julius Dietz ab, dessen Versuche, die Carl-Zeiss-Stiftung im Auftrage der NSDAP-Landesregierung de facto zu verstaatlichen, damit gescheitert sind. 1. Juni: Karl Astel, Leiter des Landesamtes für Rassewesen, erhält an der Universität eine Professur für „menschliche Züchtungslehre und Vererbungsforschung“ (später: für „menschliche Erbforschung und Rassenpolitik“). Astel, dem ab 1936 im thüringischen Innenministerium das gesamte öffentliche Medizin- und Gesundheitswesen Thüringens untersteht, treibt die Ausrichtung der Universität, der er von 1939 bis 1945 als Rektor vorsteht, auf die NS-Rassenpolitik und „-hygiene“ weiter voran. 8. August: Der durch Mittel der Stiftungsbetriebe und Staatskredite finanzierte Neubau des Schlachthofes in der Löbstedter Straße nimmt den Betrieb auf. Es ersetzt das modernen Ansprüchen nicht gerecht werdende Schlachthaus der J.er Fleischerinnung am Löbdergraben („Tonnenmühle“). 15. Oktober: Ein Städtisches Kulturamt, das direkt dem Oberbürgermeister unterstellt unterstellt ist, nimmt seine Arbeit auf. 9. November: Im Rahmen der Feiern zu Schillers 175. Geburtstag absolviert das neu gegründete "Städtische Sinfonieorchester" unter seinem Dirigenten Ernst Schwaßmann seinen ersten öffentlichen Auftritt. 10. November: Die Landesuniversität Jena erhält auf einem Festakt den Namen „Friedrich-Schilller-Universität“. |
| 1935 |
30. Januar: Mit dem Zweiten Reichsstatthaltergesetz und der Deutschen Gemeindeordnung werden Stadt- und Gemeinderäte als beschließende Instanzen aufgehoben. Ernannte „Ratsherren“ bilden ein Beratergremium des Oberbürgermeisters ohne jegliche Kompetenz. 25. Februar: Erstmals wird in Jena eine Verdunkelungsübung durchgeführt. 13. Mai: Mit der Gründung der Carl Zeiss-Siedlungs GmbH unter dem Dach der Carl-Zeiss-Stiftung institutionalisiert das Zeiss-Unternehmen den Bau so genannter Siedlungshäuser zur Wohnraumbeschaffung für seine Beschäftigten. In der Ringwiese entstehen bis 1938 mehr als 250 Zweifamilien-Siedlungshäuser mit Nutzgärten. Zwischen Juni 1937 und Dez. 1942 erfolgt der Bau der Wohnsiedlung am Schlegelsberg mit insgesamt 722 Wohnungen. 27. August: Otto Schott, Mitbegründer der Jenaer Glaswerke und einer der Hauptakteure des wirtschaftlichen, kulturellen und sozialen Lebens in Jena, verstirbt im 84. Lebensjahr. 18. Oktober: Die feierliche Übergabe der Traditionsfahne der Jenaer Urburschenschaft an den NS-Studentenbund auf der Wartburg steht symbolisch für das Ende der Burschenschaften und Korporationen und ihr Aufgehen im NS-Studentenbund, ohne dass alle Burschenschafter den rückhaltlosen Nazifizierungskurs ihrer Bundesführung unterstützen. Jahresende: Baubeginn der Kasernen in der Dornburger und Naumburger Straße in Löbstedt und Zwätzen. Mit ihrer Fertigstellung und dem Einzug von Verbänden der Wehrmacht (Artillerieregiment 24; Infanterieregiment 103) 1936/37 wird Jena wieder Garnisonsstadt. |
| 1936 |
In Jena leben erstmals mehr als 60.000 Einwohner (offiziell: 61.361). 20.-28. Juni: Auf der Grundlage einer willkürlich auf das Jahr 1236 datierten Urkunde begeht die Stadt mit einer Festwoche das 700jährige Jubiläum der Stadt-Erhebung. 23. August: Auf dem Hausberg wird ein durch die Fuchsturm-Gesellschaft Jena e. V. angelegter Ehrenhain geweiht. Er dient dem Bund der Thüringer Berg-, Burg- und Waldgemeinden als „Thingort“. September: Die Schriftstellerin Ricarda Huch übersiedelt nach Jena, wo ihr Schwiegersohn Franz Böhm eine juristische Professur übernimmt. Um Ricarda Huch bildet sich ein Kreis von Intellektuellen, die dem NS-Regime kritisch gegenüberstehen. 1. Oktober: Im neuerbauten Mehrzweckbau „Deutsches Haus“ am Holzmarkt wird ein „Lichtspieltheater“ mit einem NS-Propagandastreifen eröffnet. Das Kino wird nach 1945 als „Palast-Theater“ weitergeführt und stellt 1993 den Spielbetrieb ein. |
| 1937 |
Das teilweise Stadtgebiet umfassende Leutratal wird zum Naturschutzgebiet erklärt (1961 endgültig als NSG „Leutratal“ ausgewiesen). April: Der jüdische Kaufmann Arthur Behrendt ist gezwungen seine beiden Kaufhäuser am Markt unter Wert zu verkaufen. Das Wohlwert-Kaufhaus wird unter dem Namen „Heka“ („Hepprichs Kaufhaus“ nach dem Käufer Hepprich) weitergeführt. Sommer: Der Jenaer Kunstverein verliert durch die NS-Beschlagnahmeaktion „Entartete Kunst“ den größten Teil seines Bestand an Werken der künstlerischen Moderne. November: Paul Müller löst Armin Schmidt Beauftragter (Kreisleiter) der NSDAP für die Stadt Jena ab. Schmidt bleibt Oberbürgermeister der Stadt. 6. November: Nach Umbau wird die vom Lesehallenverein getragene Lesehalle und Leihbibliothek im Volkshaus als „Ernst-Abbe-Bücherei und Lesehalle“ neueröffnet. Leiter ist der Bibliothekar Joseph Caspar Witsch. 19. Dezember: Der Abschnitt Meerane-Jena (mit dem Hermsdorfer Kreuz) der Autobahnstrecke Dresden-Frankfurt/M. wird dem Verkehr übergeben. |
| 1938 |
Um die ehemaligen KPD-Funktionäre Magnus und Lydia Poser entsteht in Jena und Umgebung ein Widerstandsnetzwerk von etwa 30 Personen. Die Gruppe, der nicht nur frühere Mitglieder der KPD angehören, betreibt unter anderem direkte Agitation durch das Anbringen von Losungen und Druck und Verteilung von Flugblättern. Der Bau der Fernstraße nach Weimar zerschneidet den historischen Johannisfriedhof. Der älteste Teil bis zur Wagnergasse wird aufgelöst, die meisten Gräber werden in den verbliebenen Teil umgebettet. Jahresbeginn: Es erfolgt die komplette Zuschüttung des im Mittelalter künstlich angelegten Saalearmes „Lache“ im Bereich der Straßen Am Rähmen, Gerbergasse und Am Anger. Ende Oktober: Vier jüdische Familien und zwei alleinstehende Frauen werden im Rahmen der so genannten Polenaktion nach Polen abgeschoben und dort nach der deutschen Besetzung des Landes mit großer Wahrscheinlichkeit ermordet. November: Das Bakteriologische Laboratorium des Jenaer Glaswerks Schott & Genossen wird gegründet. Seine Leitung übernimmt Hans Knöll. 9./10. November: In der so genannten Reichspogromnacht werden 59 noch in Jena verbliebene jüdische Frauen und Männer verhaftet, 18 Männer in das Konzentrationslager Buchenwald überstellt, von wo sie erst nach Wochen wieder freigelassen werden. Der in den Jenaer Glaswerken tätige Ingenieur Max Grossmann verstirbt hier aufgrund von Misshandlungen. Am 10. November kommt es zu Übergriffen, vor allem gegen jüdische Geschäfte. Kinder aus jüdischen Familien werden in der Folgezeit generell vom Schulbesuch ausgeschlossen. 12. November: Die „Verordnung zur Ausschaltung der Juden aus dem deutschen Geschäftsleben“ verbietet jüdischen Inhabern das Betreiben von Einzelhandelsgeschäften endgültig. Unter Leitung des Kaufmanns Carl Schmidt werden im Folgenden die letzten in Jena verbliebenen jüdischen Geschäfte aufgelöst und abgewickelt. |
| 1939 |
11. Februar: Walter Grundmann, führender Vertreter der Glaubensbewegung Deutsche Christen, hält als Professor für Neues Testament und Völkische Theologie seine Antrittsvorlesung (1938 berufen). Grundmann zählt zu den Mitbegründern des „Instituts zur Erforschung und Beseitigung des jüdischen Einflusses auf das deutsche kirchliche Leben“ in Eisenach. 18. August: Mit der Fertigstellung der das gesamte Tal einschließlich zweier Bahnstrecken und einer Landstraße überspannenden Saaletalbrücke bei Göschwitz (Baubeginn: März 1936) wird der Autobahnabschnitt Jena-Weimar eingeweiht. An der Bauausführung und -gestaltung ist der Jenaer Steinmetzbetrieb Späte beteiligt. Die Saaletalbrücke ist bis heute die längste Natursteinbogenbrücke Mitteldeutschlands. 26. August: Im Rahmen des 5. Zeiss-Betriebssportfestes erhält das Jenaer Stadion den Namen "Ernst-Abbe-Sportfeld". Ende August/September: Im Zuge der Generalmobilmachung werden Fleisch, Zucker, Milch, Speisefett, später auch Brot und Kartoffeln sowie Seife und Bekleidung rationiert. Bei der Stadtverwaltung wird ein „Ernährungs- und Wirtschaftsamt“ zur Koordinierung diese Maßnahmen geschaffen. Mit dem Überfall auf Polen steht das Abhören ausländischer Sender unter Strafe. Jahresende: In den Dörfern um Jena werden die ersten polnischen Zwangsarbeiter in der Landwirtschaft eingesetzt. |